»Denkt dran, dies ist keine Übung!« Rufus’ Stimme klang selbst über das Headset noch angespannt. »Ich wiederhole: Dies ist keine Übung! Eine Gefahr ist nicht auszuschließen.«
»Ach, echt jetzt?«, murmelte ich. Der Oger vor mir war über zwei Meter groß, grünhäutig, mit langen spitzen Ohren und Hauern, die sich aus seinem Unterkiefer hervorwölbten. In den Händen hielt er einen langen Kriegshammer, mit dem er gerade ausholte.
Tiefe Dellen in der Feuerschutztür zeigten, was den Radau vorhin verursacht hatte, der Nick und mich überhaupt ins Treppenhaus gelockt hatte. Das war das Ziel des Ogers. Das Allerheiligste Astorias – hinter dieser Tür lagen die Vorstandsetage und das Hauptquartier der Konzernsicherheit. Konnte es ein Zufall sein, dass er ausgerechnet diese Tür attackierte?
»Können wir jetzt bitte schreien und wegrennen?«, flüsterte Nick.
Vor einer halben Stunde hatte die Konzernsicherheit Alarmstufe Rot ausgelöst, da die Überwachungskameras zwei undefinierbare grüne Schemen im Untergeschoss unserer Firma aufgezeichnet hatten. Nick und ich hielten es für einen Fehlalarm und waren in Büroklamotten zum Sammelpunkt gelatscht. Zu unserer Überraschung hatten die Typen von der Security uns dort zwei Sensen mit langem Stiel ausgehändigt. »Nur zur Sicherheit, sollte eine Verteidigung mit Magie nicht ausreichen.«
»Was glaubt ihr denn, was die grünen Blobs sind?«, fragte ich irritiert.
»Schlimmstenfalls Feenwesen, die sich mit Deckungszaubern tarnen.«
Die Zentrale war von nicht magisch begabtem Personal geräumt worden, bevor die Security alle Magier in Grüppchen aufteilte und in jeden Winkel der Firma schickte.
Nick und ich waren Spieleentwickler. Wir sollten in unserem gemeinsamen Büro sitzen und an den letzten Details unseres 3D-Egoshooter-Spiels feilen. Stattdessen liefen wir durch unsere Firma, weil sich Rufus, unser Chef, einbildete, dass wir als Magier auch ohne Unterstützung der Security mit Eindringlingen super klarkämen.
Als Plan B hatte jeder Magier neuestens eine japanische Langwaffe dabei. Ein Waffenexperte hatte die Naginatas empfohlen, da sie nicht viel Training erforderten und man sie mit beiden Händen führen konnte. Was ich persönlich viel wichtiger fand: Sie waren lang. Also konnte man sie einsetzen, ohne zu nah an den Gegner ran zu müssen. Vorausgesetzt, der Gegner war nicht zufällig über zwei Meter groß. Verdammt!
Wo war der zweite Oger?
Der erste hatte offensichtlich die Tarnung fallen lassen. Er drehte uns den breiten Rücken zu und glotzte aus kleinen gerissenen Knopfaugen die Metalltür an. Muskeln malten sich unter der rissigen Haut ab, als er den Hammer abwägend von einer Hand in die andere warf. Der Hammer war definitiv länger als ich.
Zum Glück hatte er uns noch nicht entdeckt, wie wir da auf dem Treppenabsatz eine halbe Etage höher kauerten. Ich gab Nick meine Naginata zu halten und filmte die massige Gestalt vor uns mit meinem Ino. Ein Hoch auf das winzige Mini-Tablet, das alle Magier wie ein Armband ums Handgelenk trugen.
Wieder prallte der Hammer dröhnend gegen das Metall. Der Lärm war ohrenbetäubend.
Ich markierte das Video mit unserem Standort und schickte es an Rufus und die Konzernsicherheit. Hoffentlich dauerte es nur ein paar Minuten, bis sie uns aus der Patsche halfen.
Rufus hatte uns um zehn Uhr nachts wegen der Oger zusammengetrommelt. Um die Uhrzeit war ich nicht etwa zu Hause im Bett gewesen, sondern hatte noch gearbeitet. Die Grenzen zwischen echtem Job und Magietraining, zwischen IT-Firma und Magiergilde verschwommen schon seit Wochen jeden Tag mehr. Genau genommen seit dem Tag, an dem ich aus Versehen die Schutzwälle zwischen unserer Welt und der Feenwelt zerbrochen hatte.
Ich hatte Rufus vor dem gewarnt, was eines Tages von dort den Weg in unsere Welt finden würde: magische Wesen wie Drachen oder bösartige Winddruden. Ich vermutete, dass sie sich erst mal durch die Dornenhecke zwischen unseren Welten kämpfen mussten. Nur die wirklich Harten würden es bis zu uns schaffen –– wie dieser Oger?
Da Rufus den ersten Drachen mit mir zusammen gesehen hatte, glaubte er mir. Er hatte alle Projekte auf Eis legen lassen und trainierte uns seitdem in Verteidigungs- und Angriffszaubern. Er hatte auch die Datenbanken aus meinem Fantasy-Egoshooter Forest of Fiends in die Magierdatenbank hochgeladen, damit wir rechtzeitig gewarnt wurden, wenn etwas Verdächtiges auftauchte. Heute kam der erste Alarm.
»Ob Stan Lee wohl einen Oger getroffen und so den Hulk erfunden hat?«, flüsterte ich. Prompt servierte mir mein Verstand Bilder, wie der wütende Oger mich auf den Boden schlug und »Mickriger Mensch!« brüllte.
»Immerhin würde das bedeuten, dass man die Begegnung mit so einem Vieh überleben kann.« Nick spielte nervös am Holzgriff seiner Waffe herum.
Der Oger rappelte am Türgriff, dann stieß er einen gutturalen Frustschrei aus.
»Rufus, ich habe ihn im Blick«, hauchte ich ins Headset. »Ich bestätige: Einer der Oger befindet sich im Treppenhaus zwischen Level 1A und 2A. Schickt Verstärkung!«
Der Oger drehte sich um. Seine dunklen Augen sahen mich direkt an. »Auf?«
»Die Tür bleibt zu«, rief ich.
Nick biss sich nervös auf die Lippen. »Ich weiß nicht, ob es so eine gute Idee ist, ihn anzuknurren.«
Es dauerte einen Moment, bis ich kapierte, dass ich dem Oger in seiner eigenen Sprache geantwortet hatte. Ich hatte in Faerie erfahren, dass ich von Elben abstammte. Das hatte unter anderem den netten Nebeneffekte, dass ich alle Sprachen verstehen und sprechen konnte. Da ich den Magiern bei Astoria nicht auf die Nase binden wollte, dass ich anders war, hatte ich meine neuen Talente verschwiegen.
»Haltet ihn da«, rief Rufus. »Die Teams sind auf dem Weg ins Untergeschoss. Da wurde der zweite Oger gesichtet.«
»Du machst die Tür auf!«, herrschte mich der Oger an.
Ich wählte Marc Dunn an, den Chef der Security. »Marc, hier wird es eng. Wir müssen uns zurückziehen.«
»Auf!« Der Oger machte einen Satz auf uns zu. Für seine Größe war er erstaunlich agil.
»Shit, shit, shit!« Nick und ich wirbelten herum und hechteten die Stufen zum nächsten Treppenabsatz hinauf. Nick fiel hin und seine Waffe schlug laut klappernd auf das Metallgeländer.
Der Oger legte die Ohren an und bleckte die schmalen Lippen zu einer Grimasse. Das Knurren tief aus seiner Kehle klang gar nicht gut.
Ich hielt die Naginata abwehrbereit vor mich, aber stand wie erstarrt vor Schreck.
»Tür auf!«, befahl der Oger und hob seinen Hammer.
Meine Hände zitterten, aber ich blieb, wo ich war. Der Oger durfte uns nicht entkommen. Mit dem Deckungszauber konnte er dann wieder überall sein und aus dem Hinterhalt angreifen.
Was hätte ich jetzt dafür gegeben, einen Controller statt dieser Waffe in der Hand zu halten! Oger in Computerspielen plattzumachen war ich ja gewohnt.
Jeden Moment musste doch Verstärkung die Treppe heraufkommen.
»Leute!«, schrie ich ins Headset. »Setzt eure Ärsche in Bewegung! Ihr seid fünfzig Mann gegen einen Oger. Da könnt ihr nicht zwanzig zu uns schicken?«
Ich hatte die Astoria-Security noch nie gemocht.
Nichts bewegte sich. Niemand kam uns zu Hilfe.
Ich wedelte mit der Klinge. »Geh zurück dorthin, wo du herkommst, Oger. Verlasse Albion!«
Der Oger grinste und mit einem Mal sahen sein Gesicht und seine Augen nicht mehr dümmlich aus, sondern erschreckend clever. »Neeee. Geh nicht zurück. Hier gibt es Essen. Licht. Und Menschen.« Er klopfte sich die Faust der freien Hand gegen die breite Brust. »Ich bleibe. Ich lerne mehr über Menschen.«
Verdammt. Er wollte etwas über Menschen lernen? Bedrohte ich gerade einen neuen Einwanderer mit einer Waffe, nur weil er anders aussah und eine Menge Krach machte?
Sollte ich den anderen Bescheid sagen? Aber dann musste ich zugeben, dass ich die Grunzlaute von Ogern verstand. Verdammt, verdammt!
»Was jetzt?«, flüsterte Nick. Er hatte sich zusammengerissen und stand, die Naginata kampfbereit erhoben, zwei Treppenstufen über mir.