Kapitel 3
»Warum habt ihr euch mit Vinlingen angelegt?«, knurrte der Schatten hinter mir. »Auch noch so nah am Heerlager! Ihr habt die ganze Operation gefährdet.«
»Es war eine Schnapsidee von Rufus. Wir sollten gucken, ob die Feen und Elben so aussehen, als ob sie bald in Richtung Albion aufbrechen.«
Harcos stieß ein Knurren aus, das alles bedeuten konnte.
Wieso musste ich bloß mit dem nervötenden Elben durch die abgelegenen Areale des Feenhügels schleichen? Viel lieber hätte ich Mattis an meiner Seite gehabt. Warum war Harcos nicht auf die Mission gegangen, sondern hatte Mattis und Frost geschickt? Manchmal beschlich mich das Gefühl, dass Harcos Mattis und mich absichtlich trennte. Völliger Stuss, natürlich. Was hätte er davon? Ich hatte mich bestimmt von Frosts Warnungen vor dem früheren Heerführer Talanias beeinflussen lassen. Aber es war schon das dritte Mal, dass er Mattis fortgeschickt hatte. Beim ersten Mal sollte er die Kinder Faerunas an den Herbsthof in Sicherheit bringen. Den fadenscheinigen Grund der zweiten Mission hatte ich vergessen.
Ich hatte mein Team ohne mich gehen lassen, weil ich mit Mattis’ Kumpel Harcos verabredet war. Wir durchsuchten seit zwei Wochen den Hügel nach weiteren Opfern, die Talania irgendwo versteckt hatte, damit sie sie weiter mit Magie speisten. Seit zwei Stunden schlich ich jetzt schon mit Harcos durch die verlassenen Areale des Hügels, aber wir hatten noch keine Hinweise gefunden. Warum sollten wir auch? In den vergangenen zwei Wochen hatten wir noch nie auch nur die Spur einer weiteren Opferkammer entdeckt.
Fast hätte ich es vor lauter Selbstmitleid verpasst: Der glatte Stein der Wand fühlte sich für einen Moment spitz unter meinen Fingerkuppen an.
»Hier ist was!«
Die dunklen Wände des Gangs warfen mein Flüstern mannigfach zurück. »Ist was – ist was – was – was – was …«
Der Schatten hinter mir stieß ein genervtes Stöhnen aus. Natürlich modulierte Harcos seinen unwirschen Laut so, dass er im Gegensatz zu meinem nicht widerhallte. Angeber.
Wir hielten beide unsere magischen Leuchten an die Stelle, an der ich einen Spiegelzauber vermutete. Talania hatte den ganzen Elbenhügel mit diesen Zaubern überzogen, um ihre wenig ehrenhaften Machenschaften zu verbergen.
»Du hast dich getäuscht.« Harcos deutete auf einen Makel in der sonst glatten Wand. »Nur regulärer Verfall.«
Die Enttäuschung schmeckte bitter. »Wir müssen endlich diese Kammer mit Talanias letzten Opfern finden.« Uns lief die Zeit davon.
»Was genau, denkst du, tun wir gerade hier?« Harcos spuckte die Worte förmlich aus.
Das kleine Tablet an meinem Handgelenk summte. Als ich den Bildschirm des Ino berührte, erschien Nicks Gesicht.
»Bist du schon in der Nähe von Sektor acht? Wir haben hier was ganz Seltsames gefunden.«
»Was denn?«
Meine Frage wurde von einem gellenden Schrei aus dem Ino übertönt.
Hastig schaltete ich das Headset in meinem Ohr wieder an. Ich hatte mich ausgeloggt, damit die Magier nichts über meine geheime Mission mit Harcos erfuhren.
»Diese Narren!«, zischte Harcos. Er warf seine Elbengestalt ab wie einen Mantel und stand innerhalb eines Herzschlags als Krieger Faerunas vor mir. Noch vor wenigen Wochen hätte mich die über zwei Meter große pechschwarze Gestalt, die von Stacheln übersät war, zu Tode erschreckt. Das war damals, bevor Mattis in genau dieser Gestalt festsaß. Ich hatte nur zwei Möglichkeiten gesehen: mein Herz brechen zu lassen oder mich schleunigst an die Kriegerform zu gewöhnen.
Harcos verschmolz mit den Schatten.
»Ey!« Dieser Idiot hatte mich tatsächlich allein in dem Gang zurückgelassen. Ich tippte den Ino an. »Nick? Schick mir einen Location-Pin.«
»Ist schon raus«, rief Nick atemlos über das Headset. »Wir haben hier was gesehen, aber es ist schon wieder weg. Irgendein großes Vieh.«
Ich klickte auf die Ortsmarke. Einmal, zweimal. Wieso errechnete der Ino keinen Weg zu Nick?
»Ich habe nicht genug Bandbreite für Daten«, rief ich atemlos. »Wo seid ihr ungefähr?«
Über das Headset erreichten mich nur Stimmengewirr und Laufgeräusche.
Verdammt, jetzt musste ich ohne Harcos und ohne Computerunterstützung einen Weg aus diesem tödlichen Labyrinth finden!
So schnell ich konnte, lief ich den Gang zurück. Mein kleines magisches Leuchtfeuer warf zitternd meinen Schatten auf die dunklen Felswände. Der Weg gabelte sich schließlich. Links oder rechts? Verdammt!
Mein Fuß stieß an etwas, das klackernd davonrollte. Jemand hatte rechts der Gabelung kleine Steinchen aufgetürmt. War es ein Wegweiser von Harcos an mich? Oder wollte mich jemand in eine Falle locken?
»Nick, Status!«, rief ich atemlos.
»Wir sind alle okay, aber Rikka ist von was gebissen worden«, keuchte Nick. »Wir konnten es mit Heilzaubern eindämmen. Wir bewegen uns raus aus Sektor acht, zurück in Richtung Thronsaal. Aber hier waren wir noch nie.«
Ich zog mir die Karte auf den Ino. Ich hatte keine Ahnung, wo ich war. Auf jeden Fall weit jenseits der von den Magiern überwachten Sektoren. Aber Nicks Position konnte ich jetzt erahnen. Die Magier hatten die Sektoren kreisförmig nummeriert. Der Thronsaal war das Zentrum des Hügels und hatte die Nummer eins. Sektor zwei bis vier waren die Areale, in denen wir uns normalerweise bewegten. Bewaffnete Soldaten patrouillierten Tag und Nacht die Gänge. Ab Sektor fünf und weiter raus gab es kaum Sicherheitskontrollen.
Der Gang verzweigte sich erneut. Wieder zeigte mir ein kleines Türmchen aus Kieseln den Weg. Die Frage war nur: den Weg wohin?
»Kannst du meine Position orten?«
»Negativ«, keuchte Nick. »Das habe ich schon versucht.« Ich hörte Renés Stimme, konnte ihn aber nicht verstehen. »Cedar behauptet, dass uns etwas verfolgt«, sagte Nick. »Ein Nebelkriecher.«
»Das sagt mir nichts.«
»Ist wohl nicht gut. Wenn man ihm Körperteile abtrennt, entstehen daraus noch mehr von den Viechern. Mehr weiß ich auch noch nicht.«
»Ich verstehe nicht, warum die Karte nicht funktio… Argh!«
Steinchen rieselten vor meinem Fuß in einen Abgrund, als ich abrupt abbremste.
Ich ließ die Kugel hektisch die Umgebung ausleuchten.
Die Felsspalte vor mir war sicher an die zwanzig Meter breit und so tief, dass ich kein Ende entdecken konnte. Nach etwa fünfzehn Metern musste ich die Leuchtkugel wieder hochholen, damit ich nicht die Kontrolle über den Zauberball verlor.
Ein schlanker Baumstamm führte auf die andere Seite hinüber. Die Kieselsteine, die ich mit dem Fuß in den Abgrund gestoßen hatte, hatten zu einem Schriftzug aus Steinchen auf dem Boden gehört. LANNA stand dort und ein Pfeil, der auf den Abgrund zeigte.
»Harcos!«, knurrte ich. Dieser Idiot! In der Zeit, in der er Steinchen gesammelt und zu Hänsel-und-Gretel-Spuren für mich gelegt hatte, hätte er auch einfach auf mich warten können. Wenn er es so dermaßen eilig hatte, hätte er mich auch tragen können, wie Mattis es häufiger machte. Mein Gewicht war ja nichts für einen Kerl, der mit einer Hand lässig ein Auto hochstemmen konnte.
Mein Ino piepte, als Nick mir den neuen Standort schickte. Der Ino hatte jetzt wieder genug Bandbreite, um meine Route zu ihnen zu berechnen. War ja klar, dass der schnellste Weg zu Nick und den anderen über den Abgrund führte. Über den Baum. Ein Elf würde einfach hinüberbalancieren …
Ich ließ noch einmal meine Leuchtkugel ans andere Ende des Abgrunds fliegen und jeden Schatten ausleuchten. Falls Harcos sich dort verbarg, war er unauffindbar. Vielleicht war es auch nur Paranoia, aber das hier wirkte wie eine typische Elfenprobe: »Mal sehen, was die Menschenfrau drauf hat, wenn man sie vor ein Problem stellt.« Ich war diese Spielchen so leid!
»Ich bin keine verdammte Elfe, die den ganzen Tag lang auf Ästchen herumturnt«, knurrte ich.
»Was?«, fragte Nick.
Ich hatte das Headset vergessen.
»Ich kann gleich bei euch sein, aber ich müsste über einen dünnen Ast klettern, der über einem Abgrund liegt.«
»Kannst du den Ast mit Magie verstärken und verbreitern?«, fragte Nick. »Mit Sigillen würde es sehr lange dauern, aber vielleicht kriegst du es schneller hin mit deiner Magie.«
Da war es wieder: »deine Magie«. »Ihre Elfenmagie.« Dabei benutzten Menschen und Elben genau die gleiche Magie, nur einmal mit Runen und Handzeichen gewirkt und einmal mit purem Willen. Okay, und sie hatten verschiedene Farben, aber ich hatte noch nicht herausfinden können, ob das tatsächlich einen Unterschied beim Zaubern machte.
»Ich versuch’s. Ich schalte solange die Verbindung aus.«
Ich stellte das Headset ab und konzentrierte mich. Vielleicht war ich auch nur beleidigt, weil Nicks Kommentar ins Schwarze getroffen hatte. Das hier war tatsächlich ganz typisch für Elbenmagie: etwas Einfaches nehmen wie ein Holzbrett und zwei Baumstümpfe und außen herum die Illusion einer massiven Form weben.
Ich verbreiterte den Baumstamm zur Illusion einer ein Meter breiten Holzbrücke. So, das sah doch gleich viel vertrauenerweckender aus. Aber ich wollte nicht nur, dass der Ast breiter aussah. Ich wollte auch, dass er mich tatsächlich trug. Vielleicht etwas wie der Zauber, der die Charadkakugeln schweben ließ? Statt einer Kugel erschuf ich eine Platte aus Magie und pumpte sie voll mit dem Schwebezauber. In Gedanken dankte ich meiner Lehrerin Elizabeth Birch, die uns diesen Zauber wochenlang hatte üben lassen, bis wir ihn im Schlaf beherrschten.
Jetzt brauchte ich noch etwas, um auf Kurs zu bleiben. War es Zufall, dass in dem kargen Gang, der in den Abgrund mündete, zwei Äste lagen, die genau die richtige Länge hatten?
»Harcos, ich hasse dich«, schrie ich in die Dunkelheit.
Mit wackligen Knien stieg ich auf mein improvisiertes Hoverboard und ließ die Äste zu beiden Seiten über die Kante der Brücke ragen, um das Gleichgewicht zu halten und um nicht über den Abgrund hinauszutreiben. Ich glitt so schnell vorwärts, wie ich den Zauber wirken konnte.
Leider war es nicht schnell genug. Das Holz der Brücke wurde immer durchscheinender, der ursprüngliche Ast war bald klar zu sehen. Dann verlor auch noch mein Hoverboard an Kraft und Höhe. Zwei Meter vor der rettenden Felsklippe löste es sich mit einem blauen Blitz komplett auf. Shit! Ich breitete die Arme weit aus, schrie nach Leibeskräften und rannte über den Ast. Bloß nicht runtersehen!
Mit einem verzweifelten Hechtsprung erreichte ich den rettenden Fels. Ich rutschte aus und klatschte der Länge nach auf das Gestein. Schwer atmend blieb ich erst mal liegen.
»Schön, dass du doch noch den Mut gefunden hast.« Aus den Schatten trat Harcos.
»Ich. Bring. Dich. Um.« Ich blieb liegen. Ich hätte ihm so gern eine gescheuert, aber da würde ich bei Harcos den Kürzeren ziehen.
»Ich wollte sehen, wie du auf die Magie des Hügels zugreifst. Dann wäre es ein Kinderspiel gewesen.« Harcos stellte sich breitbeinig, immer noch in Kriegergestalt, neben mich. »Geh und hilf deinem Team. Dafür wirst du den Hügel brauchen. Verbinde dich mit ihm.«
Ich setzte mich auf und ballte die Hände zu Fäusten. »Spinnst du? Was hast du ihnen auf den Hals gehetzt?«
Der Krieger hob abwehrend die Hände. »Damit hatte ich nichts zu tun. Aber es bietet eine exzellente Gelegenheit, euch in einem Kampf in diesem Hügel zu erproben.«
Ich kam auf die Beine. »Wir hatten verdammt noch mal genug Kämpfe in den letzten Wochen. Und hast du vergessen, dass draußen ein ganzes Feenheer nur darauf wartet, uns kaltzumachen? Mir reicht’s auch ohne deine Spielchen.«
»Deine Freunde haben einen Nebelkriecher aus dem Schlaf gerissen. Er ist ein Wächter des Hügels. Du darfst ihn nicht töten, nur vertreiben. Du kannst das.«
»Für solche Aktionen haben wir Mattis und dich.«
»Wir können nicht immer bei euch sein. Du musst den Hügel mit den anderen Menschen zur Not auch selbst verteidigen können.«
»Und wenn wir das nicht schaffen?«
»Dann werdet ihr versagen, wenn der Hügel angegriffen wird, und ihr werdet sterben. Oder ihr werdet euch wünschen, ihr wäret tot.« Damit verschwand Harcos wieder in den Schatten.
»Ich habe diese Scheißspiele so satt!«, brüllte ich. »Ich weiß, dass du mich hören kannst.« Mit zitternden Fingern schaltete ich mein Headset wieder ein. »Alles klar bei euch?«
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